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Wolfgang Schmidbauer:
Kleist. Die Entdeckung der narzisstischen Wunde.

Psychosozial Verlag, 2011.
ISBN: 978-3-8379-2127-4
243 Seiten, EUR 24,90 (ab X J.)

Wolfgang Schmidbauer stellt Heinrich von Kleist sowohl als traumatisierten Menschen wie als Pionier des Narzissmus vor, der lange vor Sigmund Freud das "Ich" entdeckte. Kleist zeigt bereits als Kind eine überdurchschnittliche Intelligenz und eine deutliche Hochbegabung, die ihm jedoch keine Bestätigung einbrachte, sondern das Unverständnis seiner Umgebung, die nicht in der Lage war, seine Bedürfnisse angemessen zu spiegeln. Durch den frühen Tod der Eltern und die damit erzwungene verfrühte Autonomie wurde sein instabiles Selbstbild zusätzlich erschüttert. Die Folge waren Unruhe, Überaktivität, starke Stimmungsschwankungen und soziale Ängste, die ihn zeitlebens nach Sicherheit und Stabilisierung suchen ließen. Die Angst wird das zentrale Thema seines Lebens. Schmidbauer führt nun Kleists Kompensationsversuche auf. Der Symbiosekomplex lässt ihn sich einen Partner als Selbstobjekt aufbauen, mit dem er ganz verschmelzen kann um sein Ich zu stärken. Doch weder sein Freund Pfuel noch Wilhelmine von Zenge können seinem hohen Ideal einer Liebe als Passion nahe kommen. Erst als er mit Henriette von Vogel gemeinsam in den Tod geht, erfüllt sich seine nekrophile Todessehnsucht. Trotz seiner Mittelpunkts- und Beurteilungsängste wird das Schreiben für Kleist zu einem Weg, seine Hoffnung auf Ruhm auszuleben. Die Literatur dient ihm als Übergangobjekt, in dem er Zuflucht findet und sich seine Ordnung erschaffen kann. Voller Ambivalenz und Widersprüchlichkeit schwankt er ständig zwischen Idealisierung und Entwertung, Rückzug und Nähe. Was ihn, lange vor Sigmund Freud, zum Pionier des Narzissmus macht, ist seine ungebrochene Fähigkeit zu Selbstreflexion, die vor allem in seinen Briefen zum Ausdruck kommt. Schmidbauer geht ausführlich auf Kleists "Marionettentheater" ein, in dem dieser die Entdeckung des Ich mit hoher künstlerischer Sensibilität zum Ausdruck bringt. Es entsteht das komplexe Bild eines zerrissenen, hoch belasteten Menschen, der in seinem Ringen seiner Zeit weit voraus war. Schmidbauer erstellt eine erhellende psychodynamische Diagnose mit stichhaltigen Bezügen zu Kleists Werk. Es gelingt ihm, seine Ausgangsposition auf eine mitreißende und trotz der anspruchsvollen Thematik gut lesbare Art plausibel zu machen.

© by Ulrike Schmoller
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