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Marcus Schneider:
Gegensätze ausleben - die Mitte finden.

Amthor, 2007.
ISBN: 978-3-934104-27-4
140 Seiten, EUR 14,80

Die Polaritäten, zwischen denen wir leben, sind allgegenwärtig, ganz gleich ob sie seelischer oder geistiger Natur sind oder einfach physisch. Suchen Sie sich ein beliebiges Beispiel aus. Wir können uns vorstellen, wie zwischen zwei im Unendlichen liegenden Punkten ein Seil gespannt ist, das mächtig unter Spannung steht. Der Balanceakt zwischen den beiden Extremen erweist sich als kippeliges Austesten und man beginnt unwillkürlich mit den Armen zu rudern. Die Mitte zu finden ist nur annähernd möglich, denn mal steht man zu weit rechts, mal zu weit links und der Ausgleich muss in jedem Moment neu errungen werden. Marcus Schneider macht diesen Kampf um das Gleichgewicht zum Thema und zeigt, wie der Mensch der Herr der Gegensätze werden kann.

Zuerst geht er auf den Unterschied zwischen Individualismus und Egoismus ein. Während im Kollektivismus das Ich im Ganzen aufgeht und verschwindet, kann eine bewußte Hingabe an die Gemeinschaft das Ich bereichern und stärken. Das Baby, das naturgemäß egoistisch sein muss, lernt allmählich seine Leib- und Instinktgebundenheit zu überwinden, indem es liebevolle Wärme erfährt. Für den Moment, in dem es Zuwendung erlebt, kann es seinen Hunger und seine nasse Windel vergessen - und im Zurücklächeln ganz frei sein. Die erste Polarität, mit der es konfrontiert wird, ist die zwischen Bei-sich-sein und Loslassen, die sich im Rhythmus des Schlafens und Atmens manifestiert. In der träumenden Hingabe an sein Spiel kann es ganz in seiner Mitte ankommen.

Eine weitere wichtige Phase, in der das Gleichgewicht gänzlich wegbricht, ist in der Biographie jedes Menschen die Krise der Lebensmitte. Am Beispiel Parzivals erfahren wir, wie sich die Identifikation mit einem Lebensziel, in diesem Fall das, Gralsritter zu werden, als rein äußerliche Hülle entpuppt, aus der sich der wahre, im Vorgeburtlichen getroffene Entschluß des Ichs herauschält. Dieser bodenlose, vernichtende Nullpunkt will in einem ernsten Einweihungsprozess überwunden werden, der bei Eschenbach als "Zwifel" bezeichnet wird. Parzifal wird auf seinem Weg nach innen bewußt, dass er die entscheidende Schicksalsfrage stellen muss, doch bis er seinen Fehler eingestehen und in der Verantwortung seine wahre Identität finden kann, ist es noch ein weiter Weg.

Als drittes Element stellt Schneider Gewaltbereitschaft und Enthusiasmus gegenüber. Unreflektierte überbordende Leibeskräfte beherrschen das Ich auf der einen, eine schäumende Begeisterung den Leib auf der anderen Seite. Leibliche Bedürfnisse kann diese einfach vergessen lassen , doch steigert sie sich zur Euphorie, bekommt sie etwas Verbrennendes und wird sich an den Grenzen des Lebens korrigieren müssen. Der verhärtende Kristallisationsprozess des Salzes bringt Entwicklungen zum Stillstand, während alles Sulfurische einer unsteten, luziferischen Bewegung unterliegt, die Gefahr läuft, schöner Schein zu bleiben. Immer ist der Mensch als Herr der Gegensätze zum Ausgleich aufgerufen.

Schneider packt jeden Leser an seiner eigenen Nase und erreicht ihn in seiner individuellen Lebenssituation. Unwillkürlich erinnert er einen an die persönlichen Entwicklungsschritte, man findet sich in seinen Beispielen wieder und fühlt sich neu ermuntert, den Kampf um die Mitte immer wieder aufzunehmen. Eine lohnende Lektüre!

Dieses Buch beruht auf einem Vortrag, den Marcus Schneider während eines Seminars auf Einladung des "Freien Forums" an der Heidenheimer Waldorfschule hielt.


© by Ulrike Schmoller
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