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Jutta Bauer:
Ich sitze hier im Abendlicht.
Gerstenberg, 2003.
ISBN: 3-8067-5028-9
192 Seiten, EUR 24,90 (ab 8 J.)

Briefe! Herrlichste aller Kommunikationsformen! Der Ort, an dem die Welt heimlich gestaltet, an dem Schlachten erfolgreich geschlagen, Wunden geheilt, Geheimes öffentlich und Öffentliches verheimlicht wird. Was gibt es Schöneres, als im Briefkasten einen dicken Umschlag vorzufinden, auf dem der eigene Name steht, vielleicht sogar mit einem Füller geschrieben! Welche Vorfreude, ihn ins Haus zu tragen, mit einem Brieföffner (nein, nicht mit dem Finger oder einem klebrigen Marmeladenmesser) zu öffnen und die vielen gefalteten Seiten zu entnehmen! Eine kleine Feierstunde im Alltag bricht an und vor dem Auge des Lesers öffnet sich ein Fenster in eine andere Welt. Wir nehmen teil am Leben eines anderen, erfahren seine Gedanken, kriegen die Breitseite seiner Wut ab, werden schnöde abserviert, sind ab sofort ver- oder gar entliebt, wir lachen und weinen und sind einander nah.

Die Faszination, die von Briefen ausgeht, ergreift glücklicherweise nicht nur mich, sondern viele Menschen und all jenen ist das Buch von Jutta Bauer gewidmet, die sich im Vorwort auch als „den Briefen verfallen" bezeichnet. Sie hat sortiert: Familienbriefe, Kinderbriefe, Reise- und Liebesbriefe, erfundene Briefe und Alltagsbriefe und die Liste der Urheber ist ziemlich lang: Von Maria Theresia über Fontane, Herder, Goethe, Saint-Exupéry, Kästner, Mozart, Ringelnatz, Maxie Wander und vielen anderen mehr reicht die Liste der VIPs, aber im Brief zeigen auch die Helden des Alltags wie Söhne, Töchter, Partner und Freunde, dass sie in dieser Kunst kein bisschen schlechter beleckt sind als die „Großen". Ein Brief kann die Sonne aufgehen lassen und man kann ihn so lange in der Tasche tragen, bis er zerbröselt. Briefe überstehen Kriege und was darin steht, kann nach Jahrhunderten noch zu Tränen rühren. So hat Jutta Bauer ihre Auswahl getroffen und es ist eine herrliche Mischung geworden! Forrest Gump hätte an dieser Pralinenschachtel eine Riesenfreude, denn es ist von jedem was dabei und somit auch für jeden. Krakelige Kinderbriefe, die jede Mutter aufhebt, ein kleines verliebtes Fax, eine schnöde an den Kühlschrank geheftete Drohung – die Kommunikation via Stift und Papier ist so facettenreich wie das ganze Leben.

Jetzt wäre Jutta Bauer nicht sie selbst, stünde nun ein Brief nach dem anderen. Nein, es ist eine bunte, frohe und manchmal liebevoll-respektlose Angelegenheit, ein bibliophiles Vergnügen und so manches Genie findet sich vom Sockel geholt. Jeder Brief ist nämlich geziert von einem Bildnis des Schreibenden, die wesentlichsten Punkte des Briefs werden ebenfalls illustriert, so manches Zitat findet sich am Rand und wir haben nicht nur das Vergnügen des Lesens von Geheimnissen, die gar nicht für uns gedacht waren, sondern auch noch eine Quelle der Freude an den Bildern.

Leider kann ich nun nicht mehr über dieses unbedingt auf jedem Nachtisch liegen müssende Buch von mir geben, denn seit ich es gelesen habe, sehe ich den Briefträger täglich. Mir ist nämlich endlich wieder der Name meiner Brieffreundin aus der 1. Klasse eingefallen und mein Ehemann war sehr erstaunt, nach fast 20 Jahren eher lauter mündlicher „Kommunikation" mal wieder einen ganz zahmen, lieben Brief an sein Glas gelehnt vorzufinden ..


© by Christine Krokauer
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