Walther J. Dahlhaus: Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Freies Geistesleben, 2019.
ISBN: 978-3-8251-8014-0
437 Seiten, EUR 30.--
Wer könnte besser über seelische Erkrankungen bei
Menschen mit Behinderung schreiben als ein Autor, der Heilpädagoge und
Psychiater in Personalunion ist und auf einen reichen Schatz an Praxis-
und Lehrerfahrung zurückgreifen kann? Walter Dahlhaus tut das zudem so
respektvoll, praxisnah und gut strukturiert, dass seine Ausführungen
für alle Menschen, die mit Betroffenen zu tun haben, zu einem Gewinn
werden. Da es nicht einfach ist, eine psychische Erkrankung zu
erkennen, wenn sie von anderen genetischen oder hirnorganischen
Beeinträchtigungen überlagert ist, stellt er zuerst einmal die
psychiatrischen Krankheitsbilder und die heilpädagogischen
Verhaltensphänotype vor, um sie mit dem gewonnenen Wissen voneinander
abgrenzen zu können. Dabei ist seine Grundhaltung bejahend und um
Verstehen bemüht. Diese Fähigkeit des Einfühlens möchte er auch
vermitteln, damit eine fachlich und individuell fundierte Diagnose
gestellt werden kann. Die Schulmedizin erweitert er um die
Menschenkunde Rudolf Steiners, wobei er alle Beteiligten im Blick
behält. An seinen vielen Beispielen lässt sich ablesen, wie „mit
Phantasie und Heilermut“, durch die Strukturierung des Milieus, durch
Sinnespflege und stabile Bindungen Heilung geschehen kann. Seine
persönlichen exemplarischen „Ansprachen“ zeigen die Innensicht des
psychiatrischen Erlebens eindrücklich. Bei der Vielzahl der
Abweichungen geht er genau im richtigen Maß auf das Wesentliche ein.
Unter- und Überforderung zu vermeiden und gegebenenfalls eine zeitweise
Regression auf ein niedrigeres sozio-emotionales Entwicklungsalter zu
ermöglichen kann Entlastung verschaffen. Neben den Therapieformen weist
er auch auf die Selbstfürsorge des Fachpersonals hin. Sein Blick ist
weit gefasst und ganzheitlich. Er schreibt nicht dozierend sondern auf
Augenhöhe und im Bewusstsein, dass alle Heilung stets nur ein
bestmögliches Bemühen sein kann. So öffnet er dem Leser die Augen für
plötzliche Stimmungsumschwünge, Rückzug, Ängste und Aggressionen, die
oft sprachlich nicht benannt werden können und sich deshalb über
Symptome ausdrücken müssen. Die Lektüre, ob linear oder punktuell,
steigert die Intuition für die Praxis und hat per se etwas Gesundendes.
Die Zitate, die Infokästen, die Hervorhebungen am Rand erleichtern die
Orientierung. Ein inhaltlich so wertvolles und auf regen Gebrauch
angelegtes Werk hätte allerdings eine feste Bindung verdient gehabt.