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Claudia Grah-Wittich:
Wie siehst du mich?.
Freies Geistesleben, 2017.
ISBN: 978-3-7725-2679-4
168 Seiten, EUR 24.--
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In einem Gedicht von Hilde Domin heißt es: „Es gibt dich, weil Augen dich wollen, dich ansehen“. Besonders für das kleine Kind im ersten Jahrsiebt spielt die Art, wie es seine Eltern in seinem Wesen betrachten eine elementare Rolle, denn sie bilden laut Rudolf Steiner nach der Geburt seine seelische Hülle. Geht man davon aus, dass ein Kind so gesehen werden will, wie es werden möchte, liegt es nahe, bei der Frühförderung an dieser Stellschraube anzusetzen um über die Sichtweisen der Eltern einen Werdeprozess beim Kind zu initiieren. An der Frühförderstelle „Das Haus des Kindes“ am „hof“ in Niederursel wird in diesem Sinne gearbeitet, indem die Eltern im Rahmen von Beratungsgesprächen, die parallel zur Therapie ihrer Kinder stattfinden, künstlerisch tätig sind. In ihren Bildern offenbart sich unverstellt ihre Innensicht des Kindes, so dass sich dessen Geste selbst aussprechen kann ohne dass eine Beurteilung von außen nötig ist. So können in einer vertrauensvollen, respektvollen Atmosphäre biographische Traumata aufgearbeitet werden, die aus der eigenen Kindheit stammen oder mit der Geburt des Kindes verbunden sind, Veränderungen im Alltag angeregt, die Ressourcen gestärkt und die Situation des Kindes buchstäblich mit neuen Augen gesehen werden. Für die Kinder wird nach Beantragung der Frühförderung ein Förderplan erstellt, der im ersten Jahrsiebt primär die gesunde physische Entwicklung zum Ziel hat. Demnach stehen die Bewegungstherapie, die Schulung und Pflege der Sinne sowie die Förderung der Lebenskräfte im Vordergrund, wofür am „hof“ die verschiedensten Naturmaterialien, eine Werkstatt sowie eine anregende ländliche Umgebung samt Tieren zur Verfügung stehen. Es wird immer individuell und systemisch gearbeitet und das Vorgehen ohne den Rückgriff auf Schemata am Bedarf abgelesen. So kann es gelingen, dass das Kind schließlich sein Sein ergreifen kann.
Im vorliegenden Buch erfahren wir von fünf Kindern und deren Eltern, die die Frühförderung im „Haus des Kindes“ in Anspruch genommen haben. Exemplarisch wird deren Vorgeschichte und der Verlauf der Behandlung anhand von Eltern-Bildern vorgestellt. Deren Entstehungsprozess wird von den Eltern erläutert und kurz von der Beraterin interpretiert. So bekommt der Leser einen sehr persönlichen Einblick in die Schicksale und die Metamorphosen der Beteiligten und damit auch in die Vorgehensweise der Frühförderstelle. Der Bericht einer Mutter ergänzt diesen Teil noch einmal aus ihrem eigenen konkreten Blickwinkel. Ergänzt durch die allgemeinen Ausführungen der Autorin zu den Rahmenbedingungen gewinnt der Leser durch dieses Buch eine bildhafte Vorstellung davon, wie erfolgreiche Frühförderung auf anthroposophischer Grundlage aussehen kann. Im Sinne einer Best-Practice-Darstellung anhand von individuellen Einzelfällen, können Frühförderer, Familienberater, Erzieher und Eltern von diesem Buch profitieren. Das Buch vermittelt die Methode so nachvollziehbar, dass sie sich ohne weiteres in der eigenen Arbeit anwenden lässt. Offen bleibt die Frage, wie die zusätzlichen Stunden mit den Eltern im „Haus des Kindes“ finanziert werden. Es lohnt sich sicher, bei den Trägern der Frühförderung die Effektivität der künstlerischen Begleitung ins Gespräch zu bringen. Sie ist ein Gewinn für alle Beteiligten.