© www.litterula.de

Andreas Neider (Hrsg.):
Brauchen Jungen eine andere Erziehung als Mädchen?

Freies Geistesleben, 2007.
ISBN: 978-3-7725-2169-0
260 Seiten, EUR 18,50

Es wird immer offensichtlicher, dass es Mädchen in unseren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen leichter haben. Sie sind weniger verhaltensauffällig, gesundheitlich stabiler und bringen bessere Leistungen. Für Eltern und Pädagogen stellt sich eindringlich die Frage, was die Jungen heute brauchen, um sich gesund entwickeln zu können. In diesem Buch antworten darauf acht Menschen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen.

Der Fokus des Psychologen Tim Rohrmann liegt auf den besonderen Bildungsbedürfnissen der Jungen. Durch das weitgehende Fehlen väterlicher Vorbilder und durch den Feminismus haben es die Jungen schwer zwischen Macker und Weichei ihre Rolle zu finden. Sie brauchen Männer als Identifikationsfiguren, die selbst bewußt über ihr Rollenverhalten nachdenken und ihnen ein breites Verhaltensrepertoire anbieten. Auch was den Umgang mit Konflikten angeht, die Aufklärung und die Lesemotivation kommt den Männern und Vätern eine verantwortungsvolle Aufgabe zu. Anschließend erläutert der Kinderarzt Jan Vagedes die anatomischen Grundlagen der Geschlechtsunterschiede und zieht menschenkundliche Schlüsse für die Erziehung der Jungen daraus. Es müssen ihnen einerseits Grenzen gesetzt werden, wenn ihre Energie ins Chaotische und Zerstörerische abdriftet, sie müssen aber auch Gelegenheit bekommen, ihre Kräfte sinnvoll einzusetzen und das Vertrauen entwickeln können, dass sie tatsächlich gebraucht werden.

Peter Singer berichtet ganz praxisnah wie Jungen ihr Umfeld erobern wollen, wobei sie oftmals etwas tun ohne vorher zu denken und wie sie voller Risikobereitschaft an ihre Grenzen gehen, um sich erfahren zu können. Sie wollen sich vor allem körperlich erproben, suchen die aktive Präsenz des Erwachsenen und sein klares moralisches Urteilen. Durch konzentriertes sinnvolles Arbeiten können sie lernen, zielgerichtet und verantwortungsbewußt zu werden. Singer wirft die Frage auf, ob die Waldorfpädagogik das Dionysische, Kräftige, das den Jungen entgegenkäme, nicht zu sehr ausklammert. Viele Fotos aus seiner Arbeit dokumentieren eine gelungene Jungenpädagogik. Ulrich Meier geht auf subtile Gewaltformen und Gruppenprozesse unter Jungen ein. Er zeigt, wie Opfern und Tätern aus der Gewaltspirale herausgeholfen werden kann. Eine große Bedeutung kommt der Trennung des Jugendlichen vom Elternhaus zu, bei der dieser von sich aus "die Versorgungsleitungen kappen" muss. Elementare Körpererfahrungen sind wichtig, bei denen die eigene Schwäche erlebt und akzeptiert werden kann.

Mit Beispielen aus dem Schulalltag belegt Thomas Jachmann, wie schwierig Gemeinschaftsbildung heute geworden ist und wie individuell die Schüler behandelt werden wollen. Er zeigt auf, wie Kommunikation schon beim Säugling gelingen kannn und wie soziales Lernen die Bedürfnisse der Schulkinder aufnehmen kann, wodurch sich auch die Jungen in ihrer Eigenart geborgen fühlen können. Claudia Grah-Wittich betont, wie wichtig die Person des Erwachsenen und seine Selbsterziehung für die gesunde Entwicklung des Kindes sind. Die Kinder spiegeln die Unstrukturiertheit der Seele des Erwachsenen indem sie zappeln oder quasseln ohne mit sich verbunden zu sein und setzen so ihre Willensimpulse nicht wirklich um. Die Jungen, deren körperliche Kräfte zeitweise ihre seelischen übertreffen und die demzufolge einen Mangel in ihrer Mitte erleben, müssen einen Innenraum entwickeln, in dem sie sich entfalten können. Um das seelisch Erlebte auch kommunizieren zu können, brauchen sie Väter, die zur Selbstreflexion fähig sind und mit denen sie in eine geführte, sachliche Tätigkeit kommen können. Von den Müttern ist mehr eine Abgrenzung und eine Bändigung der eigenen Emotionen gefragt.

Andreas Neider versorgt die Leser mit Informationen über den Computerspielbereich, wobei besonders interessant ist, dass beim Computerspielen die sogenannten Spiegelneuronen im Gehirn, die normalerweise jede Tätigkeit eines Anderen mitmachen, nicht aktiv werden. Dadurch sind Emotionen und Empathie völlig ausgeschaltet, was jugendlichen Jungen in ihrer Unsicherheit die Erfahrung von Kontrolle, Macht und Erfolg bringt. Eine Gefahr stellt dabei der Rückzug aus der Realität und die Reduktion der Gehirnaktivität dar. Ein veränderter Bezug zur Gewalt kann die Folge sein. Michael Birnthaler unterschiedet zwischen Erlebnis- und Erlebenspädagogik. Er schreibt darüber, wie wichtig Grenzerfahrungen und Initiationsriten sind, dass jedoch der ganzheitliche Bezug nicht verloren gehen darf.

Insgesamt werfen diese Beiträge ein erfreulich vielseitiges Bild auf das Thema. Damit ist dieses Buch sowohl praxisnah wie theoretisch grundlegend, es gibt einen breitgefächerten Überblick und geht zugleich fein ausgearbeitet in die Tiefe, so dass es nur allen empfohlen werden kann, die mit Kindern zu tun haben.


© by Ulrike Schmoller
www.litterula.de