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Helle Sonne, dunkler Schatten Ruth White:
Helle Sonne, dunkler Schatten.

Verlag Freies Geistesleben, 2002.
120 Seiten, EUR 13,50 (ab 12 J.)

Die beiden Mädchen Sonne und Lyrik laufen durch ein kaltes, finsteres Tal als sie plötzlich von riesigen Wölfen verfolgt werden. Lyrik gelingt es, sich in die Luft zu erheben , doch Sonne kann die Füße nicht vom Boden lösen. Lyrik kann ihre Schwester nicht länger halten, muss sie loslassen und fliegt davon. Als sie aufwacht, stellt sich heraus, dass beide Mädchen den gleichen Alptraum hatten, mit dem Unterschied, dass er für Sonne Teil ihres Lebens ist, während er Lyrik ein Einfühlen in die schizophrene Gedankenwelt ihrer Schwester ermöglicht.

Sonne und Lyrik sind seit dem frühen Tod ihrer Mutter unzertrennlich. Die ältere Sonne wird für Lyrik zur Ersatzmutter, die sie versorgt, der Vater zum Fels in der Brandung, der die beiden mit Humor und Zuversicht durch das karge einfache Leben in den 50er-Jahren in Virginia bringt. Sonnes absonderliches Verhalten fällt ihnen kaum auf, weil sie es so gewohnt sind, doch nach dem Umzug in die Stadt verschlimmert sich ihr Zustand zusehends. Sie verkriecht sich im Bett, schaukelt hin und her, wäscht sich nicht mehr und führt Gespräche mit sich selbst oder mit Verstorbenen. Sie fügt sich selbst Verletzungen zu, läuft davon und hat das Gefühl sich aufzulösen und keinen Schatten mehr zu haben. Als sie zunehmend zu einer Gefahr für sich und andere wird, gibt es keine andere Möglichkeit mehr als sie in die Psychiatrie einzuweisen.

Lyrik muss sich mit ihrer Scham über die unangenehm auffallende Schwester auseinandersetzen, aber auch mit ihrem Schmerz, der vertrauten Älteren nicht helfen zu können. Es wirkt beklemmend wie sie machtlos danebenstehen muss und nicht verhindern kann, dass die Andere abdriftet, die sie doch immer als die Stärkere empfunden hatte, zu der sie aufschaute. Je mehr Sonne abbaut, desto mehr lebt sich Lyrik in der neuen Stadt ein, findet Freunde und beginnt ein eigenes fröhliches Leben. Ruth White gelingt es Lyriks Erleben genauso vielschichtig zu entwickeln wie sie den schleichenden Verfall Sonnes schildert, der, durchbrochen von lichten Momenten, immer mehr in den Wahn führt. Ansatzweise läßt sich nachempfinden, was schizophrene Menschen durchmachen, und doch bleibt eine große Fremdheit und Entrücktheit.

Ein wenig behandeltes Thema im Jugendbuch wird mit "Helle Sonne, dunkler Schatten" in eine preiswürdige literarische Form gebracht.

© Ulrike Schmoller
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