Hanna Jansen: Über tausend Hügel wandere ich mit dir. Thienemann Verlag, 2002. 368 Seiten, EUR 16,80 (ab 14 J.) |
Lesen Sie Ihre Morgenzeitung von vorne oder blättern Sie lieber von hinten zum Anfang vor? Liest man alles schön der Reihe nach, stehen die wichtigsten Nachrichten am Anfang, diejenigen die am Schrecklichsten sind und meistens irgendwo weit weg passiert sind. Bis zum Regionalteil hat sich dann schon ein heimlicher Verdrängungsmechanismus eingestellt, der das entfernte Leid unter der Rubrik "Da kann ich doch sowieso nichts machen." abgelegt hat. Auch der Völkermord in Ruanda, der ja erst vor wenigen Jahren stattgefunden hat, gehört zu diesen grauenvollen Ereignissen, die man sich gar nicht vorzustellen vermag.
In dem Buch "Über tausend Hügel wandere ich mit dir" hat Hanna Jansen die Geschichte ihrer Pflegetochter Jeanne aufgeschrieben, die als einzige ihrer Familie den Völkermord überlebt hat und schließlich bei Jansens in Deutschland ein neues Zuhause gefunden hat. Sie erzählt vom wohlbehüteten Leben in der Lehrersfamilie in Kibungo, von den uralten Geschichten der Großmutter und vom ganz normalen Kinderleben mit den zwei Geschwistern. Doch als Jeanne acht Jahre alt ist, ist auf einmal nichts mehr so wie es war. Nachdem der ruandische Präsident mit seinem Flugzeug abgeschossen wurde, beginnen Hutu-Rebellen mit Äxten und Macheten über ihre den Tutsi angehörenden Nachbarn herzufallen. Jeannes Familie reiht sich in die Schar der Flüchtenden ein, die sich in einem Gemeindezentrum so gut es geht einzurichten versucht. Doch das Massaker, das die Interahamwe-Milizen dort anrichten, ist furchtbar. Jeannes Mutter, ihre Schwester und Tante kommen dabei ums Leben, wenig später werden auch ihr Bruder und ihr Vater erschlagen. Eine Mutter mit mehreren Kindern, die als Hutu mit einem Tutsi verheiratet war, ist bereit Jeanne als ihr eigenes auszugeben. Sie flüchten zu deren Herkunftsfamilie, wo Jeanne erleben muss, wie die Männer ihre eigenen Neffen umbringen. Bis sich das Blatt wendet, weil die Tutsi-Rebellen wiederum die Gegend einnehmen, hat Jeanne soviel Entsetzliches gesehen, dass sie schwere innere Wunden davonträgt. In ihrer Heimatstadt wird sie von den Soldaten versorgt, doch ihre ersten Ausflüge an die bekannten Plätze nehmen sie so mit, dass sie sehr krank wird und schließlich sogar das Sprechen einstellt. Erst die Begegnung mit einer anderen Überlebenden gibt ihr die Sprache zurück und bringt sie auf die Idee, zu ihrer Tante nach Belgien zu gehen. So gelangt sie als Zehnjährige schließlich zu Hanna Jansens Familie.
Immer wieder unterbricht diese ihren Nach-Erzählfluß durch Einschübe, in denen sie die Brücke zu der Jeanne von heute schlägt, ihre eigenen Gefühle schildert und wie sie versucht das Mädchen zu halten und zu begleiten. Ihr behutsames Zuhören das tatsächlich wie eine gemeinsame Wanderung über tausend Hügel wirkt, ermöglicht es Jeanne die Vergangenheit aufzudecken, die unerträglichen Erinnerungen mitzuteilen und zu verarbeiten. Dieser Blickwinkel aus der wohlgeordeten Gegenwart macht die Lektüre erträglich und doch gehen einem die Bilder sehr nahe. Anders als bei einer Zeitungsnotiz kann man sich durch dieses Buch ganz mit dem Schicksal eines Menschen verbinden, wodurch der Verdrängungsmechanismus keine Chance mehr hat. Es rüttelt auf und zugleich bleibt das Staunen über das Wunder, das über dem Leben dieses starken Mädchens liegt.