Erna Sassen: Keine Form, in die ich passe. Freies Geistesleben, 2018.
ISBN: 978-3772528637
240 Seiten, EUR 18.- (ab 14 J.)
Tess hat ihren Lehrer „Parzifal“ geliebt, all die Monate, die sie ihn als Assistentin bei seinen Kabarett-Auftritten begleitet hat. Dass er sie als kostenlose Arbeitskraft ausgenutzt hat und unangemessen übergriffig wurde, hat sie während der ganzen gemeinsamen Zeit verleugnet und kann es nun erst im Nachhinein richtig einordnen. Dabei ist ihr Evelien eine große Hilfe, die vor kurzem eine Tochter in Tess Alter verloren hat. So ehrlich diese mit ihrer Trauer umgeht, so ungeschminkt sagt sie Tess ihre Meinung. Tess lässt uns daran teilhaben, wie sie sich langsam aus ihrem Perfektionismus und ihren Schuldgefühlen befreit und sich traut, den Dingen ins Auge zu sehen. Statt auf Umwegen eine Konfrontation zu vermeiden und Entscheidungen zu umgehen, lernt sie, sich nicht mehr nur von außen beeinflussen zu lassen und bei Auseinandersetzungen klein beizugeben. Sie muss auch nicht für alles eine Gegenleistung erbringen. Während sie die Geschichte mit P. verarbeitet, sucht sie auch nach dem, was ihr Eigenes ist und was sie als Hausarbeit in der Schule präsentieren will: sie wird eine CD mit ihren Liedern aufnehmen.
Nach „Komm mir nicht zu nahe“ geht es auch in diesem Buch um eine Heranwachsende, die eine ungleiche Beziehung zu einem dominanten Lehrer im Schauspielmilieu unterhält und zwischen Selbstvorwürfen und Ergebenheit schwankt. Ist Tess tatsächlich eine zwanghafte Stalkerin, wie P. es ihr vorwirft? Sie macht sich mit Sicherheit viele Gedanken und reflektiert ihr Verhalten ohne uns Lesern ihre Fehleinschätzungen und Selbstvorwürfe vorzuenthalten. Durch die rückblickende Distanz sackt sie dabei nicht in Melancholie ab, sondern befreit sich mit einem Paukenschlag aus ihrer Opferrolle und richtet sich zu ihrer wahren Größe auf. Besser kann man die Ich-Geburt einer Jugendlichen nicht beschreiben.