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Meere von Zeit - Auf der anderen Seite der Tür Tonke Dragt:
Meere von Zeit - Auf der anderen Seite der Tür.

Verlag Freies Geistesleben, 2000.
472 Seiten, DM 39,80 (ab 14 J.)

"Eine Fundgrube für begeisterte, geübte Leser, die Bücher lieben und erforschen möchten, was Zeit und Raum sind.", steht vielsagend und treffend auf dem Einband von Tonke Dragts neuem Schmöker "Auf der anderen Seite der Tür" zu lesen, das den ersten Teil eines mehrbändigen Werks mit dem Titel "Meere von Zeit" bildet. Es ist in der Tat ein Buch für echte Leseratten, die es lieben in einem fast 500 Seiten dicken Wälzer zu verschwinden und die raue Wirklichkeit eine Weile zu vergessen, wenn sich zwischen den zwei Buchdeckeln eine geheimnisvolle phantastische Welt auftut. Auch Otto, der Protagonist der Geschichte, erliegt der Faszination eines Buches, das er in dem Laden der Montags findet, bei denen er aushilft. Es ist leicht beschädigt und scheint eine Geschichensammlung zu sein, trägt die Widmung "Für Otto" und wird ihm von einer Jungenstimme empfohlen. Im ersten Kapitel ist die Rede von Türen, hinter denen sich plötzlich etwas völlig Unerwartetes verbirgt, was Otto natürlich gleich um Mitternacht ausprobieren muss. So gelangt er von seinem Zimmer direkt in die Januarische Ambassade, ein riesiges altes Gebäude mit unendlich vielen Zimmern, einem Musiksaal, einer Bibliothek und einem malerischen Park, die allerdings völlig unbelebt sind. Bald bekommt er heraus, dass er seine Zimmertür schließen muss, um die Botschaft zum Leben zu erwecken und lernt so die Bewohner und die Geheimnisse dieser anderen Welt kennen. Er trifft das Galgenkind (den Sohn Christian Morgensterns), das Mädchen Claartje, den blauen Marsjan, Herrn A., die Robotin Xanthippe und natürlich den Bibliothekar, der gleichzeitig der Sekretär des Ambassadeurs ist und Herrn Montag täuschend ähnlich sieht. Die Frage, die ihn am meisten beschäftigt ist, wer der Ambassadeur ist, der all diesen Figuren Asyl gewährt, während er sich selbst dafür entscheidet, zwischen den beiden Welten hin- und herzuwechseln.

Sollte ein Leser nicht wissen, dass eine Ambassade eine Botschaft ist oder was es mit "Schrödingers Katze" auf sich hat, wird er nach der Lektüre dieses Buches um manchen Bildungsbaustein reicher sein. Anspielungen und Fussnoten erklären und wecken den Wunsch, bestimmte Begriffe noch genauer nachzuschlagen. Das Milieu wirkt großzügig und gepflegt, es wird viel gelesen und am Flügel musiziert. Dass das Buch dennoch nicht für Streber geschrieben zu sein scheint, ist vor allem der frechen Sprechweise und den Wortspielen des Galgenkindes zu verdanken.

Versierten Lesern werden die Parallelen zur Rahmenhandlung der "Unendlichen Geschichte" von Michael Ende nicht entgehen und die Gedichtzeilen aus den "Galgenliedern" bekannt vorkommen. Erstaunlicherweise ist "Auf der anderen Seite der Tür" ein packendes Buch, obwohl es nur über einen sehr flachen Spannungsbogen verfügt, der noch dazu über das Ende hinausreicht. Die Frage nach dem Ambassadeur zieht sich zwar als roter Faden hindurch, wird aber bis zur letzten Seite nicht beantwortet, sondern auf den Folgeband vertagt. Das Fesselnde entsteht dadurch, dass Otto, auf der Flucht vor den Schikanen durch seine realen Mitschüler, immer tiefer in die Geheimnisse der Ambassade eintaucht, ihre Regeln kennenlernt und Verknüpfungen mit der Wirklichkeit entdeckt, wobei es jedoch keine wirklich schlimme Bedrohung oder existentielle Gefahr für ihn gibt. Das Leben in der Ambassade bietet tatsächlich Asyl vor den Wirren des Alltags, sie ist ein angenehmer interessanter Ort, der Otto wie den Leser gleichermassen fasziniert.

Der Reiz dieser Geschichte liegt darin, dass sie den Leser wirklich in ihre Welt aufnimmt, relativ unspektakulär und in aller Ausführlichkeit, indem die einzelnen Motive in immer neuen Zusammenhängen auftauchen.

Die Collagen der Autorin, in denen sie Bücher, Schwäne, Uhren, Treppen, Albert Einstein und vieles andere miteinander verbindet, sind Spiegel des Textes, die der Phantasie Raum lassen.

Viele werden den zweiten Band "Der Weg zur Zelle" ungeduldig erwarten, weil am Ende noch so viele Fragen offen sind. Aber vielleicht funktioniert es ja tatsächlich, dass sich Türen plötzlich in ungeahnte Räume öffnen....

Ein Buch, in dem man "baden" kann, für Menschen, die das Lesen geniessen und "Meere von Zeit" haben.

© Ulrike Schmoller
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