Einmal aus dem Paradies vertrieben, gibt es keinen Weg mehr dorthin zurück. Es wird für immer verschlossen bleiben. Jeder Heranwachsende erlebt, wie mit dem Erwachen des Bewusstseins zugleich die Unbeschwertheit des Kindseins verloren geht. Die jugendliche Karin erfährt das in Potenz: in den Sechziger Jahren muss sie mit ansehen, wie ihr ganzes bisheriges Leben verschwindet. Bei der großen Sturmflut in Hamburg 1962 wird ihre ganze Behelfsheim-Siedlung hinter dem Elbdeich von den Wassermassen überschwemmt, die alles mit sich reißen, was ihr bislang wichtig war: die Ferienstimmung, den ersten Fernseher, den Wunsch nach einer Ponyfrisur, ihre Freundschaft mit Regina und für einen Moment auch ihre drängenden Fragen danach, warum ihre Eltern und ihre netten Nachbarn während des Dritten Reichs nichts für die Juden getan haben. In den letzten Monaten hatte sie durch die Nachrichten vom Eichmann-Prozess in Jerusalem und vom Mauerbau in Berlin erfahren und die "Sternkinder" gelesen. Nach der Katastrophe, bei der sie miterlebt hat, wie Nachbarn und Tiere starben und nachdem sie lange um ihre Familie bangen musste, bekommen sie zwar eine Wohnung in der Stadt, aber sonst ist nichts mehr wie zuvor. Sie weiß, dass auch ihre Eltern keine ganz reine Weste haben und dass man das, was man tut, immer selbst tut, auch wenn es andere befohlen haben, auch dass man zum Verbrecher werden kann, weil man ein Feigling ist. Sie lässt sich nichts mehr sagen und steht kurz vor dem Absprung in die Selbständigkeit.
Kirsten Boie verknüpft hier geschickt die Zeitgeschichte mit Karins persönlichem Schicksal. Mitten im Wirtschaftswunder zieht die Katastrophe den Menschen den Boden unter den Füßen weg. Wie fragil doch unser Wohlstand ist! Auf gesellschaftlicher Ebene begann die Aufarbeitung des Nationalsozialismus vehement das Verdrängte aufzurütteln. So wie es Karin nicht gelingt, die schlimmen Bilder mit dem Kindervers "Ringel Rangel Rosen" wegzuschieben, muss auch diese Wahrheit ans Licht kommen. Ein ausgezeichnetes Buch.