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Christa Ludwig:
Die siebte Sage.

Freies Geistesleben, 2007.
ISBN: 978-3-7725-2177-5
504 Seiten, EUR 17,50 (ab 12 J.)

Hängen oder Köpfen - das ist hier die Frage. Die Menschen in der Kalifenstadt Al-Cúrbona setzen all ihre Hoffnung auf eine Antwort in Dschira, das lang erwartete Kind mit den sechs Zehen, das sie "Dschinnu" nennen. Sieben Nächste lang wird Dschira in einer goldenen Wiege geschaukelt, damit sie die verschollene siebte Sage träumen kann, und mit jeder Nacht steigt ihre Verzweiflung, denn wenn es ihr nicht gelingt, wird sie mit ihrer Familie den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Doch es scheint noch einen anderen Weg zu geben: ihr Bruder Januao stößt auf rote bardische Zeichen und Zeilen, die in den Mosaiken an den Wänden versteckt sind. Leben, Tod, Wasser - doch welches ist das vierte, wenn es nicht Feuer sein kann? Die beiden Geschwister suchen in der ganzen prachtvollen Stadt mit ihren Bädern, Brunnen, mit Ornamenten verzierten Säulen und im reich ausgeschmückten Palast und lernen so schließlich auch die Abgründe dieses Lebens im Überfluss kennen. Auf ihrer Flucht durch das Abwassersystem geraten sie in die Kloake, werden fast von einem Krokodil gefressen und erfahren wie das Wasserspiel im Springbrunnen funktioniert. Das Labyrinth unter der Stadt birgt auch ein großes schreckliches Geheimnis, das seit Jahrhunderten totgeschwiegen wird, und das das Verhältnis der Barden und der Araminen in ein völlig anderes Licht rückt. Dschira und Januao bekommen zwar heraus wie die Verwandtschaftsverhältnisse der Herrscherfamilie in Wirklichkeit sind, doch als die Parade beginnt, bei der Dschira erzählen soll, fehlt ihnen immer noch ein Viertel der siebten Sage. Ob Januao seine Schwester noch retten kann? Alle warten gespannt darauf, wie die Todesstrafe geregelt werden soll…

"Wie kommt sie da wieder heraus?" habe ich mich beim Lesen unentwegt gefragt, denn nicht nur Dschira, auch die Autorin kann diese Handlung nicht ohne plausiblen Schluß abrunden. Er läßt sich tatsächlich nicht erahnen, wie an keiner Stelle des Buches abzusehen ist wie es weitergehen wird. Es spielt nicht nur in einem außergewöhnlichen Ambiente, einer Mischung aus einer erdachten und von der Geschichte inspirierten fremden Kultur mit einem an Farben und Formen überreichen Baustil, ganz eigenen Gesetzen und wohlklingenen, sprechenden Namen, sondern es geschehen dort auch atemberaubende Dinge. Besonders ergreifend sind die letzten Stunden, die Januao zwischen seiner Blendung und dem erwarteten vollständigen Verlust seines Augenlichtes erlebt, in denen er noch einmal, alle Eindrücke aufsaugend, Abschied nimmt vom Sonnenlicht, der Weite und dem Blick in die Augen eines Anderen. Nicht nur das Sehen, auch die Gerüche in Form von unbändigem Gestank oder betörenden Blumen, das Hören in Gestalt von Januaos Flötenspiel, das Berühren, etwa beim Eintauchen in ein kühles Wasserbecken - stets sind alle Sinne durch die allgegenwärtige Todesangst überwach und intensiv beteiligt, womit die Sehnsucht nach dem Leben süß und schmerzlich geschürt wird.. Wer so berührende Worte für das Sterben einer Katze finden kann wie Christa Ludwig, gehört zu den Könnern unter den Jugendbuchautoren. Sie entfaltet einen monumentalen Reichtum an Bildern vor unseren Augen, der überbordende Schönheit und überwältigenden Ekel miteinander vereint. Ihre sieben Sagen entspringen spielerisch-philosophischem Denken und klingen nach Jahrtausende alten Überlieferungen. Die Neugier auf die Lösung des Dschinnus reicht am Ende sogar über die letzte Seite hinaus.


© by Ulrike Schmoller
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