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Mordicai Gerstein:
Victor.

Verlag Freies Geistesleben, 1999.
230 Seiten, DM 36.-- (ab 14 J.)

Angeregt durch den Film von Francois Truffaut beschäftigte sich Mordicai Gerstein über Jahre hinweg intensiv mit der Geschichte des Wolfskindes aus dem Aveyron und veröffentlicht nun zu diesem Thema im Verlag Freies Geistesleben ein Bilderbuch und einen Roman. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wird in einem Wald in Südfrankreich ein Junge gefunden, der offensichtlich keinerlei Kontakt zu Menschen hatte, nur auf Nahrung und Freiheit aus ist und keinerlei Empfindung für Kälte und Wärme zu haben scheint. Er wird nach Paris in ein Institut für Taubstumme gebracht, wo er wissenschaftlich untersucht, neugierig betrachtet und schließlich als hoffnungsloser Fall alleingelassen wird. Der junge Arzt Jean-Marc Itard nimmt sich seiner an, um sich gemeinsam mit seiner Haushälterin Madame Guérin um ihn zu kümmern. Sie geben ihm den Namen Victor, ein eigenes Zimmer, seine Lieblingsspeisen und Zuwendung und haben schon in kürzester Zeit großen Erfolg. Victor lernt rasch sich an einfachen Gewohnheiten zu orientieren, seine Bezugspersonen lieb zu gewinnen und Ordnungsprinzipien zu erkennen. Das macht sich Itard als sein Lehrer zunutze. Er fördert Victors unterentwickelte Sinne durch Bäder, Tast- und Hörübungen und lehrt ihn auf immer abstrakter werdende Art das Zuordnen. Über Gegenstände, Farben und Formen gelangen sie bis zum Alphabet und zum Lesen und Schreiben. Nur bei der Sprachentwicklung kann Itard keine Fortschritte bei Victor erzielen, so dass er ihn schließlich der Obhut Madame Guerins überläßt und sich den taubstummen Kindern zuwendet. Seine Arbeit mit Victor bringt ihm viel Anerkennung ein und hat bis in die heutige Zeit hinein die Pädagogik geprägt.

Mordicai Gerstein beschreibt Victors Geschichte aus der Sicht der ihn umgebenden Menschen und aus seiner eigenen in auktorialer Erzählhaltung. Besonders die Stellen, an denen er sich in das Kind hineinversetzt und seine Gedanken wiedergibt, sind sehr bewegend und ergreifend. Der pädagogisch-therapeutische Weg, den Itard mit Victor geht, wird von seiner Innenseite her beschrieben: Itards Zweifel, seine Freude über jeden Fortschritt und sein Zorn, wenn er an eine Grenze kommt, sein Staunen und seine Selbsterkenntnis ebenso wie Victors Zuneigung, sein Widerstand gegen bestimmte Lernschritte und seine erwachende Sexualität. Es wird erlebbar, wieviel Mühe ein derartiger Prozess kostet, und wieviel Liebe bewirken kann. Fiktion und Geschichte vermischen sich zu einem flüssig zu lesenden Roman, der für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen beeindruckend ist. Das Bilderbuch ("Der wilde Junge"), das für Kinder ab sechs Jahren geeignet ist, erzählt die gleiche Geschichte in kindgemäßer Form und ist mit Illustrationen des Autors versehen. Gerstein versteht es, die Erfahrungen Victors, die Gegensätze zwischen der Wildheit und der Zivilisation, seine Einsamkeit und sein Aufblühen durch die Wahl der Farben und die Mimik der Personen glaubhaft darzustellen. Dieses ungewöhnliche Bilderbuch wird sicher manche Kinderfrage aufwerfen.

© Ulrike Schmoller
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