ÖFFENTLICHKEITS-ARBEIT |
Das Schülerbücherreich
der Freien Waldorfschule Heidenheim
Die
Schüler
Kürzlich waren die Erstklässler das erste Mal in der Bücherei
zu Besuch. Als langer Bücherwurm zogen wir gemeinsam die Treppe hinunter.
Dort gab es die Geschichte von Jan zu hören, einem Erstklässler,
der abends nicht einschlafen kann, weil er so gerne wissen möchte,
wie das Buch weitergeht, das sein Vater ihm gerade vorgelesen hat. Er buchstabiert
sich - mit reger Beteiligung der Kinder - durch das erste Wort, da spricht
ihn der Bär aus dem Buch an und macht ihm Mut, es immer weiter zu probieren.
Im Traum zeigt er Jan das Reich der Bücher" und erlaubt
ihm sogar eines mit nach Hause zu nehmen. Er bekommt ein Leseheft und verspricht,
das Buch bestimmt rechtzeitig zurückzubringen. Von nun an geht er oft
nach dem Unterricht durch das große Tor, über dem Schülerbücherreich"
steht, und das es natürlich nicht nur im Traum gibt, sondern mitten
in seiner eigenen Schule.
Im letzten Sommer waren alle Klassen der Unter- und Mittelstufe in die Bücherei
eingeladen um den Einzug in den neuen Raum zu feiern. Georg Dreißig
las und erzählte für die Jüngeren, die erstaunlicherweise
alle Platz fanden, was eine fröhliche Einweihung wurde (und mir deutlich
machte wie groß der Unterschied zwischen dem Vorlesen und dem Erzählen
ist). Bei den Älteren ging es mir darum, sie mit der neuen Aufstellung
vertraut zu machen, damit sie wissen wie sie etwas finden können. Die
Drittklässler durften Autoren sein und sich Titel ausdenken, die auf
weiß eingebundene Bücher geschrieben wurden. Diese galt es dann
in eine alphabetische Reihenfolge wie im Regal zu bringen. Die fünfte
Klasse bekam Bücher vorgestellt, da jeder Schüler über die
großen Ferien etwas lesen und dann im Unterricht davon erzählen
sollte. Die beiden sechsten Klassen beantworteten Quizfragen, wozu sie bestimmte
Bücher suchen mußten, allerdings noch ohne den PC, den erst die
Siebtklässler erklärt bekamen. (Ich staunte wie unterschiedlich
der Kenntnisstand der Einzelnen ist.)
So war jeder Schüler einmal in der Bücherei gewesen und mit dem
Raum warm geworden. Im Herbst durften wir Kevin Crossley-Holland für
eine Lesung bei uns haben, der auf Englisch mit Übersetzung aus seinem
Artus-Buch las und uns sogar etwas auf Altenglisch erzählte. Im April
war Christa Ludwig als Gast bei der fünften und sechsten Klasse, deren
Besuch wir über den Bödecker-Kreis finanziert bekamen. (Der Friedrich-Bödecker-Kreis
gibt Zuschüsse für Autorenlesungen an Schulen, die drei Monate
zuvor angemeldet werden müssen. Beim Bundesverband des FBK, Fischtorplatz
23, 55116 Mainz kann ein Autorenverzeichnis angefordert werden.) Dass Ihr
Buch Ein Lied für Daphnes Fohlen" ausgerechnet von Alexander
dem Großen handelte und die Fünftklässler mitten in der
Antike steckten, traf sich ausgesprochen gut. Mit dem mitgebrachten Modell
vom Hof Philipps des Zweiten gewann sie schnell die Aufmerksamkeit der Kinder
und vermittelte ihnen geschickt wie das Buch entstanden ist, ohne zuviel
zu verraten.
Natürlich kommen in so eine Schülerbücherei vor allem die
jüngeren Kinder, obwohl wir auch für Jugendliche einen interessanten
Bestand haben. (Diese Bücher werden dann von den Müttern ausgeliehen
und gerne gelesen, wenn sie zu Hause herumliegen.) Deshalb kam mir der Einfall,
eine Schülerbücherzeitung ins Leben zu rufen, in der Rätsel,
Buchbesprechungen von Schülern, eigene Texte zu Bildern, Interviews
und Autorenporträts stehen könnten- die LITERATÜREN";
sozusagen als Türen zur Literatur. Die Kollegen waren von der Idee
sehr angetan und räumten mir gerne Zeit im Unterricht ein, die Zeitung
und ausgewählte Bücher vorzustellen. Es stellte sich heraus, dass
die Oberstufe eine eigene Zeitung plante und sich davon abkoppeln wollte.
Die Viertklässler entwarfen mit großem Eifer Kreuzworträtsel,
Witze und Quizfragen. Die fünfte Klasse schrieb Rezensionen als Hausaufgabe,
wofür sie Tips bekam und wobei sehr schöne Texte entstanden sind,
in denen viel Mühe steckt. Aus Klasse 6 bis 8 schrieben nur einzelne
Schüler etwas, doch auch dass so viele Bücher gelesen wurden,
sehe ich schon als Gewinn. Auf einmal kamen die Jugendlichen tatsächlich
in die Bücherei, sei es um flapsige Fragen zu stellen oder zu diskutieren,
ob ihr Unterrichtsprotokoll nun gedruckt wird oder nicht. Das Redaktionsteam
beschäftigte sich mit der Gestaltung und der Finanzierung, keine einfache
Sache ( auch für mich nicht). Werbung mußte organisiert werden,
Texte getippt und gestaltet werden, manches behutsam korrigiert und alles
in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht werden. Mit dem Know-How der Druckerei
wurde schließlich ein ansprechendes, dickes Heft daraus, das stolz
entgegengenommen wurde. Wie bedeutsam es für die Kinder ist, ihren
Namen richtig gedruckt unter ihren Texten zu sehen, wurde da deutlich, wo
er fehlte, weil er auf dem abgegebenen Zettel vergessen worden war. Auch
auf so einfache Dinge wie vollständige Literaturangaben mussten die
Schüler achten lernen.
Ob es wie geplant regelmäßig ein Literatürenheft geben wird?
Ich hoffe, dass sich viele durch diese Ausgabe zum Weiterschreiben motivieren
lassen, dass die Begeisterung richtig überschwappt und ich weniger
der Motor des Ganzen bin sondern vielleicht ein Scheinwerfer. Sinnvoll wäre
eine noch größere Integration in den Deutschunterricht, dass
wirklich alle Chancen des Mediums (Literatur-)Zeitung ausgeschöpft
werden können. Von der Inhaltsangabe bis zur immer kritischeren Auseinandersetzung
mit Texten läßt sich daran einiges lernen.
Die Bücher
Im Schülerbücherreich
gibt es nicht nur Bücher, sondern auch einen großen Stapel Gesellschaftsspiele,
die sehr beliebt sind bei wartenden Kindern. Die Bücher erscheinen
im Vergleich zur Stadtbücherei wie sorgsam aussuchte Perlen. Keines
steht unbedacht im Regal. Was sind die Auswahlkriterien, an denen ich mich
orientiere? Ich versuche menschenkundliche Gesichtpunkte zugrunde zu legen.
Bei den Bilderbüchern, die für das erste Jahrsiebt gedacht sind,
achte ich beim Anschauen darauf, wie sie physisch auf mich wirken, da die
Bilder auch für die kleinen Kinder bis ins Organische wirksam werden.
Gerne hätte ich noch mehr bewegliche Bilderbücher, mit denen sich
unmittelbar ins Tun kommen läßt, doch ist das Angebot begrenzt.
Eine große Bedeutung kommt den Farbstimmungen zu, die Wärme,
Sympathie und Lebensfreude vermitteln sollen. Illustrationen, die starre
Konturen haben, ironische Anspielungen enthalten oder stark verfremdet sind,
so dass sie nur über den Kopf verstanden werden können, sind nichts
für das erste Jahrsiebt. Es läßt sich an den Augenbewegungen
ablesen, ob ein Bild beim Anschauen lebendig wird, ob es sich dem Blick
öffnet und den Betrachter einlädt, darin spazieren zugehen. Wird
einem warm im Bauch, steigt ein Glucksen herauf, schlägt das Herz ruhiger
oder schneller? Wie fließt die Sprache dahin? Bildet sie eine Einheit
mit den Bildern? Sind die Themen so gewählt, dass sie an die Erfahrungswelt
des Kindes anknüpfen, es aber doch herausfordern?
Wollen die Kinder selbst anfangen zu lesen, eignen sich die Bilderbücher
oft durch die Typographie und die Wortwahl nicht dafür. Gute Erstlesebücher
zu finden, ist nicht einfach. Die Masse entspricht zwar von der Gestaltung
her den Anforderungen an Schriftgröße und Textaufteilung, ist
aber inhaltlich zu banal. Interesse und Motivation zu wecken stehen in diesem
Alter im Vordergrund, damit die Kinder gerne die Mühe auf sich nehmen,
einen Text zu entziffern. Bildhaftigkeit und Authentizität sind im
zweiten Jahrsiebt die Hauptkriterien, wobei ein Buch ernsthaft, phantasievoll,
lustig oder spannend sein kann, die Gefühle müssen nur gut herausgearbeitet
sein.
Im (idealen) Jugendbuch geht es um die Auseinandersetzung mit einem fremden
Schicksal, das nicht das eigene ist, mit dem man sich aber verbinden, in
das man sich einfühlen kann, selbst wenn es in einer anderen Zeit oder
Kultur liegt. Es zeigt, wie andere mit einem Problem umgehen, läßt
einen aber völlig frei in der Entscheidung, was man für sich übernehmen
möchte, ohne moralisch zu werden.Ein gutes Jugendbuch berührt
einen, läßt mitleiden, öffnet einem die Augen. Die innere
Entwicklung des Protagonisten wird zum Anstoß für den Leser.
Die wirklich guten Bücher für Jugendliche handeln von den Tiefen
des Lebens, behandeln existentielle Lebensfragen und schaffen es, etwas
Höheres im Leser ansprechen, das über die Alltagsebene hinausgeht.
Der literarischer Anspruch darf dabei weder zu niedrig noch zu hoch liegen.
Das Reich
Unsere gut 1300 Bücher
auf 25 Quadratmeter können für ein Kind eine ganze Welt sein. Ich
erinnere mich wie ich als Erwachsene in die Gemeindebücherei meiner Großmutter
kam, in der ich früher eifrig beim Stempeln half. Wie kamen mir die wenigen
Regale lächerlich vor! Doch als Kind boten sie mir unendlich viele Geschichten
und jeder Buchrücken war wie ein Tor in ein neues Land. Die Überschaubarkeit
schafft Geborgenheit, die Auswahl überfordert die Kinder nicht, die gerade
mit Lesen beginnen. Auch räumlich ist das Schülerbücherreich"
so gestaltet, dass man sich auf dieser Insel mitten im Schulhaus zu Hause fühlen
kann. Die Regale sind gemütlich (Leksvik von Ikea) und für die Kleinen
niedrig, die Bilderbücher stehen sogar ganz am Boden, der mit warmem blauem
Teppichboden bedeckt ist, auf den man sich gerne hinsetzt. Die umlaufenden Bänke
mit Polstern lassen sich prima zum Zuhören und Vorlesen nutzen. Die Türen
sind mit viel Glas einladend, weit zu öffnen und transparent. Auf einer
Seite bot sich die Möglichkeit mit Schuhständern (Redd, Ikea), eine
Präsentationsfläche zu schaffen. Der PC in der Ecke dient der Einarbeitung
und der Suche, er kann in vielen Fällen auch gleich die Rezension zum Buch
liefern.
Sind wir damit reich? Es kommt mir so vor. Was über die Jahre aus einer
Klassenbücherei wachsen konnte, weil ein Mensch sein Herz daran gehängt
hat (Danke, Herr Singer)! Wieviel Aufmerksamkeit in der Bücherei steckt,
wieviel Ideen, wie man ohne finanzielle Mittel an Bücher kommen kann, wieviele
Stunden Ausleihe die Büchermütter geleistet haben, wieviel Rollen
Einbindefolie verarbeitet wurden (Materialien zum Einbinden und Bearbeiten gibt
es bei der Einkaufzentrale für Bibliotheken (PF 1542, 72705 Reutlingen):
die Arbeit lohnt sich!
Wieviel Reichtum können wir den Schülern schenken indem wir ihnen
das Reich der Bücher öffnen!